Wortarchitekt Friedrich Achleitner †

31.03.2019
Ein Nachruf

Diese Geschichte über den gebürtigen Oberösterreicher Friedrich Achleitner beginnt in Salzburg, wo er mit Wilhelm Holzbauer maturiert (abituriert) und die Technische Gewerbeschule absolviert hat. 1949 gehen die beiden 19-Jährigen an die Akademie der bildenden Künste nach Wien, machen 1953 ihr Diplom beim Architekturgroßmeister Clemens Holzmeister. Achleitner hängt dann noch eine Meisterklasse für Bühnenbild dran.

Während sich Holzbauer zum Studieren und anschließenden Lehren in Amerika aufhält (1956 bis 1959), gestaltet Achleitner mit seinem Salzburger Kommilitonen Johann Georg Gsteu die neoromanische Rosenkranzkirche in Wien-Hetzendorf um. Diese laut Kritik „purifizierende Neuinterpretation“ war und blieb Achleitners einzige Arbeit als Architekt. Später sollte Achleitner selbst zum gefürchteten wie respektierten Architekturkritiker werden, indem er zehn Jahre lang (bis 1972) die „Bausünden“-Kolumne der Tageszeitung Die Presse verfasst.

Zuvor schreibt Achleitner seinem Freund Holzbauer aus Wien nach Boston, dass er sich entschlossen hat, nicht mehr als Architekt zu arbeiten, um sich fortan literarisch zu betätigen. Holzbauer kommentiert später: „So ist es eben in Wien: Man macht einen Strich unter sich selbst, geht ins Caféhaus und macht Literatur.“ Und so kommt es auch.

1955 lernt Friedrich Achleitner auf einem Weinbergfest von Arnulf Rainer in Bad Vöslau bei Wien den Lautdichter und Sprechtexter Gerhard Rühm kennen. Kurz darauf sitzen sie mit H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener im Café Hawelka als „Wiener Gruppe“ beisammen. Ihr Ziel ist „die Erneuerung der literarischen Aussage aus dem Material der Sprache“. Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus und Konstruktivismus sind die Anknüpfungspunkte. Die Happenings im Rahmen ihres „Literarischen Kabinetts“ inklusive Konzertflügelzertrümmerung per Axt und Polizeieinsatz fotografiert Karin Mack (die Friedrich Achleitner später auch einen Sohn und eine Tochter schenkt). Die Klavierzertrümmerung passiert 1959, 14 Jahre nach Karl Valentin in München (zum 150. Todestag Mozarts) und zeitgleich mit Nam June Paik in Düsseldorf (Hommage à John Cage). Zur Textproduktion der Wiener Gruppe attestiert die damalige Schriftstellerinstanz Heimito von Doderer 1959 Friedrich Achleitner und Konrad Bayer, dass „in den beiden jungen Dichtern (…) ein gut Teil von Österreichs literarischer Zukunft beschlossen liegt: einer solchen Zukunft nämlich, die über Österreichs Grenzen weit hinausgreift“.

Als „Wortarchitekt“ konstruiert Achleitner eine konzeptuelle Literatur, die sich aus Einzelbausteinen zusammensetzt und damit die Literaturgattung Konkrete Poesie – orientiert an der Konkreten Kunst, wie sie Max Bill 1949 formuliert hat – in Wien mitbegründet. Sein konstruktivistischer Ansatz äußert sich – wie der des der Wiener Gruppe nahestehenden Ernst Jandl („rinks und lechts“) – in der Vertauschung von Buchstaben und der Verdrehung von Lauten. 1959 veröffentlicht „Achi“ (wie ihn seine Kollegen nennen) gemeinsam mit Artmann und Rühm den Dialekt-Band „hosn rosn baa“, ein Jahr darauf publiziert er „schwer schwarz“, 1973 formiert er seine typografischen Wortgebilde im „quadratroman“ – einem der markantesten Werke der Konkreten Poesie.

Ab 1978 nimmt Achleitner teil am Bielefelder Colloquium Neue Poesie, zu dem sich Konkrete Poeten (bis 2002) jährlich treffen. Zu den internationalen Teilnehmern zählen neben Gerhard Rühm auch Timm Ulrichs und manchmal Eugen Gomringer, der in Zürich ab 1953, fast zeitgleich mit Rühm, erstmals Konkrete Poesie verfasst hat. Eine Fotografie zeigt Achleitner neben Rühm und Jörg Drews (Mitbegründer des Kolloquiums), wie sie auf einem Friedhof beisammenstehen, aufgenommen von Timm Ulrichs mit einer Polaroidkamera, abgebildet und untertitelt im „quadratroman“: „timm ulrichs gestohlen und jörg drews gewidmet“. Weitere „Quadrat“-Seiten widmet Achleitner Ulrichs direkt sowie Gomringer und Rühm. Diese Verbindungen geben den herausgeberischen Anlass zur Aufnahme Achleitners in die bereits mit Gomringer, Ulrichs und Rühm veröffentlichte Editionsreihe „Konkrete Poesie (Bierdeckel)“ von Artikel Editionen – wobei dieses Quartett der wichtigsten Konkreten Poeten nun nicht mehr komplettiert werden kann.

Neben der Dichtung arbeitet Achleitner ab 1965 und bis zu seinem 80. Geburtstag an der Dokumentation „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“. In diesen 45 Jahren macht der „Doyen der österreichischen Architekturkritik“ (OÖN) in acht der neun Bundesländer Österreichs über 100.000 Gebäudefotos, die im Architekturzentrum Wien digitalisiert werden. Zwischen 1980 bis 2010 in fünf Bänden erschienen, wurde Achleitners Opus magnum zum Standardwerk, mit dem er 1981 an der Technischen Universität Graz zum Dr. techn. promovierte. Kurz darauf  treffen sich die akademischen Linien der Jugendfreunde Holzbauer und Achleitner an der Universität für angewandte Kunst in Wien wieder. Als Achleitner dort 1983 die Lehrkanzel für Geschichte und Theorie der Architektur übernimmt, ist Holzbauer Rektor des Hauses (bis 1991).

Nach seiner Emeritierung 1998 arbeitet Achleitner wieder verstärkt als freier Literat. Ab 2003 verlegt Zsolnay seine gewitzten Prosaminiaturen, die er als „einschlafgeschichten“ verharmlost. Mit „wortgesindel“ erscheint 2015 die fünfte Folge. Texte, in denen er originell und präzise dem aufregenden Eigenleben der Sprache nachgeht – Vorder- und Hintergründiges oder Hinter- und Widersinniges aufspürt und Selbstverständlichkeiten als verstandlos entlarvt. Ausgehend von der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins untersucht Achleitner die Funktionen sprachlicher Strukturen und fomuliert seine Erkenntnisse mit Witz und Würze, angeregt etwa vom lapidaren Humor des Karl Valentin – „der uns alle beschäftigte“ (Holzbauer). 

Wilhelm Holzbauer, der sich in seinen Amerika-Jahren von den den Happenings in den Literarischen Kabaretts der Wiener Gruppe ausgeschlossen gefühlt haben musste, kompensiert sein Heimweh mit einem drei Jahre sprudelndem Füllhorn experimenteller Brieftexte. In diesen persifliert er mal Ludwig Thoma’s Filserbriefe, mal den jiddischen Witz, mal Karl Valentins Alltagsnonsense. Den Empfänger spricht er an mit „Gargantuinischer Ausschweifling“ oder „Grober Hosenmatz“. Und wenn ihm der „Theure Freundling“ aus Wien schreibt, dass man „sowohl schaim schiassn als auch schiam scheissn“ [Scheiben schießen/Schirme scheißen] kann, und ihm Holzbauer als „Furzknochen“ antwortet, so erinnert das an Mozarts Bäsle-Briefe. 50 Jahre später, zu Holzbauers 80. Geburtstag, gibt Adressat Achleitner die Briefe dem Absender zurück. Nach Einschätzung von Mona Müry, die die Briefe in Buchform herausbringt („meiself in bosdn – Briefe aus Amerika“, 2012), bildet der schreibende Architekt Holzbauer damals den transatlantischen Satelliten der Wiener Gruppe.

Von seinen Weggefährten verehrt, von offizieller Seite vielfach geehrt, sagt der Mann mit der Corbusier-Brille zuletzt bei der Verleihung des Paul Watzlawick Ehrenrings (2011), er habe sich stets weder nur als Kritiker, Schriftsteller oder Sprachkünstler noch ausschließlich als Dokumentator gesehen, sondern als jemand, der Mauern des Unverständnisses niederreißen möchte sowie Fantasie, Ratio und emotionale Wissenschaft in einen Diskurs bringen will. Am 27. März 2019 stirbt Friedrich Achleitner, kurz vor Vollendung seines 89. Lebensjahrs (Geburtstag am 29. Mai), in seiner Wiener Wohnung des über 450 Jahre alten Basiliskenhauses in der Schönlaterngasse, dem Nachbarhaus von Wiens Literaturzentrum Alte Schmiede. Und wenn Gerhard Rühm auf Wunsch der Witwe Barbara Achleitner die Trauerrede am Wiener Zentralfriedhof hält, kann man annehmen, dass die in einer Wiener Gruppe-Sprache an- und abhebt.

Peter Fabian