Vorstellung/en von Ellen Kobe

20.05.2023
Künstlerinnenprofil

Historische Vorstellungen achronisieren und dekontextionalisiert gegenwärtig interpretieren. Historische Gemälde in Tableaux vivants zeitgenössisch verlebendigen. Sich nach eigenen Vorstellungen als Nachkommin historischer Personen öffentlich vorstellen. Die persiflierende Königsnachfolgerin ist eine Künstlerin, die aus heutiger Sicht durch einen phantasievollen Umgang mit der Vergangenheit zeitgenössisch auftritt und in eine (selbst)bildnerische Zukunft geht: Ellen Kobe.

Ellen Kobe wurde 1968 in Dresden geboren, studierte parallel zum Abitur im Abendstudium an der Hochschule für Bildende Künste, anschließend an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und beendete ihr Studium mit einem DAAD-Stipendium an der École Supérieure d’Art et de Design Marseille-Méditerranée. Nach ihrem Diplom (1992 „avec félicitation“) geht ihre Laufbahn in verschiedene Richtungen: Sie wird Performerin, Autorin, Regisseurin, Kuratorin, Dozentin – und das meistens synchron. 

Die akrobatischen Sprünge und Hebungen des Synchronschwimmens werden bis heute nur Frauen gestattet – Männer dürfen erst ab 2024 in das olympische Synchronschwimmbecken in Paris eintauchen. Gleichsam als Synchronschwimmerin im Künstlerinnenbecken tritt Ellen Kobe schon seit langem für Frauen ein. So hat sie zum Beispiel 100 Jahre nach Öffnung der Berliner Kunstakademie für Künstlerinnen 2019 im Berliner Schloss Biesdorf die Ausstellung „Klasse Damen!“ mit Werken von 12 Künstlerinnen der klassischen Moderne und 14 zeitgenössischen Positionen aus Berlin kuratiert und mit eigener Performance eröffnet.

Vielspurig sind Ellen Kobes künstlerische Aktionen: Ihre Bildende Kunst ist nicht nur bildnerisch zu sehen, sondern sie bedarf bildungsorientierter Rezeption, Untersuchung und Erklärung. Ihre Handlungen spielen sich vor historischen Kulissen in gegenwärtigen Inszenierungen ab. Geschichten erzählt Ellen Kobe nicht in angenommenen Abläufen sondern ariadnehaft hinein- und herausführend. Sie konzediert die „Achronie“, wie sie die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk beschrieben hat, als ein „Ineinander der Epochen nach dem Modell eines (zusammenschiebbaren) Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen“, die man „auseinanderziehen (kann) wie eine Ziehharmonika (…), aber auch ineinander stülpen wie die russischen Puppen“, denn bei ineinander verschachtelten Matrjoschkas sind „die Wände der Zeiten einander ganz nah” (Lenk).

Nah wie in den Enfiladen des Sommerschlosses Friedrichs des Großen in Sanssouci, wo sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler aus mehreren Ländern mit ihren Werken in den „Zimmerfluchten“ mit ihren historischen Vorgängern begegnen („Neue Kunst in den neuen Kammern!“ 2008), oder in von heutigen Brautpaaren beliebten klassizistischen Locations wie dem Belvedere auf dem Pfingstberg („hochZeiten!“ 2013). In solchen Gruppenausstellungen (er)öffnet Ellen Kobe als Kuratorin gerne den Genius loci mit zeitgenössischer Malerei, Skulptur, Performance und Fotografie. In diesen künstlerischen Reenactments begegnet sie etwa dem traditionellen Rollenspiel der Brautpärchen in Schlossgärten mit Musil’scher Möglichkeitsrealität – inszeniert ein Zusammenspiel von alter und junger Geschichte, baut eine gegenwärtige Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft.

Die späteren Performances bewegen sich im Spannungsfeld des gesellschaftlichen Diskurses um „Fake Identities“. In der Performance „Wärest du…“ lässt sie von ihrer (selbst dargestellten) Assistentin die Familiengeschichte ihrer fiktiven Vorfahrin Lotte Laserstein vortragen (Schloss Biesdorf 2019) – in deren Szene „Abend über Potsdam“ sie 2022 Platz nimmt. In der Filmfassung dieser Performance zitiert sie aus Lasersteins Briefwechsel mit deren Kommilitonen Heinz Trapp. 

Briefe sind für Ellen Kobe ein Mittel zur Kontaktaufnahme aus ihrer Gegenwart in andere Zeiten. Zu ihrer „Raumerzählung“ im Castello Colonna di Olevano Romano lädt sie u. a. eine Künstlerin ein, die verfasst hat, was Charlotte von Stein an Goethe geschrieben haben könnte, nachdem diese die Briefe von ihm zurückgefordert und verbrannt hatte, weil er ihr auf seiner Italienreise niemals geantwortet hat (2015). Damit realisiert Kobe die Verbriefung von heutigen Zuschreibungen, Vorstellungen, Wünschen.

Von echten Briefen, alten Film- und Fotodokumenten ausgehend, schreibt Ellen Kobe auch ihre fiktiven Familien- und Verwandtschaftsgeschichten fort – etwa mit der Schauspielerin, Künstlerin und Kunstsammlerin Carola Peill-Jaeger (Leopold-Hoesch-Museum Düren 2019) oder mit Walter Gropius: Auf Einladung der Bauhaus-Stiftung 2016 wurde sie während ihrer Performance „Grundsteinlegung!“ des Neubaus des Bauhauses Dessau vom Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalt und dem Oberbürgermeister offiziell als Gropius’ Urenkelin (aus einer geheim gehaltenen Schwangerschaft seiner minderjährigen Tochter Manon) begrüßt und als solche auch auf „Sachsen-Anhalt Heute“ ausgestrahlt (was vom MDR nachträglich revidiert werden musste). Auf ihrem „Festmahl!“ im Festsaal des Schloss Museums Wolfenbüttel (2021) legitimierte sie sich als spätgeborene Gastgeberin, indem sie mit einem Trompe-l’œil-Verwirrspiel des Sehens und Begreifens wahrnehmbar machte, dass die Gemahlin von Friedrich dem Großen (Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel) entgegen der Geschichtsschreibung nicht kinderlos war. Zum „Tag des offenen Denkmals“ inszenierte sie die „Einweihung“ einer (in der Performance nicht enthüllten) Napoleon Bonaparte-Büste in der unter französischer Flagge gestellten Zitadelle Spandau (2018) als Nachkommin von Napoleons Mätresse Maria Walewska.

Ein anderes künstlerisches Ausdrucksmittel sind Ellen Kobes „dekontextualisierte Museumsführungen“: Sie ließ sich von Museen als Ausstellungsführerin engagieren und transferierte später in Performances ihre originalen Vortragsabläufe aus den Museumsräumen in Galerieräume und auf einer Kunstmesse. So erklärte sie die Pracht und den Bilderreichtum des preußischen Sommerschlosses Sanssouci in den Kojen und Gängen der Berliner Liste (2014) und die Gemälde von der Goya-Ausstellung der Alten Nationalgalerie in der Galerie Nord des Berliner Kunstvereins Tiergarten (2005). Eine noch ungewöhnlichere Verschiebung vom realen zum fiktiven Rundgang hat sie 2004 in der Neuen Nationalgalerie Berlin getroffen: Hier hat sie nach ihren offiziellen Führungen durch die Blockbuster-Ausstellung „Das MoMA in Berlin“ und dem Abbau der Exponate zu einem nachträglichen Rundgang mit konkreten Bildbeschreibungen vor leeren Wänden eingeladen.

In den 2000er Jahren hat sich Ellen Kobe auch auf Museumsklassiker in Tableaux vivants vor Raumprojektionen von Gemälden eingelassen: Inszenierung des Rokokogemäldes „Die Liebeserklärung“ von Jean Francois Detroy aus dem Schloss Sanssouci im Haus der Brandenburgisch Preußischen Geschichte (2004), Livedarstellung der „Stickerin“ von Georg Friedrich Kersting im Stadtmuseum Bergen auf Rügen (2007) und die Darstellung einer Frau aus dem projizierten Genrebild „Interieurs mit handarbeitenden Frauen“ von Willem Buytewech, als sie die Löcher in den von den Galeriebesuchern der Berliner Galerie Ostpol abgegebenen Hemden, Hosen und Socken stopfte (2004). Ein noch lebensnäheres Lebendes Bild realisierte sie 2007 auf der Documenta 12 mit der christlichen Ikonografie der „Madonna mit dem Kind“: Sie lud Mütter mit Kindern im Stillalter ein, führte sie durch die Ausstellungshallen und richtete eine „Still-Plattform“ in der VIP-Lounge an der Orangerie in der Karlsaue ein – wo sie auch selbst als Performance wahrgenommen wurden.

Seit März 2023 ist Ellen Kobe künstlerische Leiterin des Kunstvereins KunstHaus Potsdam und verbindet hier kuratorisches und künstlerisches Potenzial mit der geplanten Ausstellungsreihe „Ortsbezug!“, in der sie unter anderem mit der Performance „Stauffenbergs Tasche!“ die Timeline 1944 bis 2024 abschreiten wird.

Aus der Gesamtperspektive betrachtet ist Ellen Kobe eine der interessantesten im Kunstmarkt zu entdeckenden Künstlerpersönlichkeiten. Hinter dem Diminutiv Ellen steckt die große „Eleonore“, die im gleichnamigen Schauspiel von Johann Nestroy sagt „Das Leben ist ein Schauspiel, und wir spielen alle mit“ – um sich dann spielerisch zur Königin zu entwickeln.

Peter Fabian