Die Fotografie der Maler
Auf der Suche nach dem schönen und wahren Bild, dem spontaneren und natürlichen Gesicht, greifen im 19. Jahrhundert viele Porträtmaler zur Fotokamera und die Porträtkunden zur Daguerreotypie und Kalotypie, zu Tin types und Bosco-Automatenbildern (Ferrotypien), zu Visitenkarten- und Kabinettfotos, zur Fotopostkarte und zum Barytpapierabzug. Viele der berühmten (Porträt)Fotografen, die ihre Arbeit zur (bildenden) Kunst entwickeln, kommen von der Malerei. Und die Porträtsalons riechen bald nach Entwicklerflüssigkeiten statt nach Ölfarbe. Obgleich die Fotografie im Atelier von Irene Andessner nach Malerei „riecht“.
Nach dem Gebrauch der Camera Obscura, jener im Prinzip bereits von Aristoteles beschrieben, von Leonardo da Vinci untersuchten und seit Jan Vermeer als Skizzierinstrument genutzten Lochkamera, kommt den Malern ab 1839/40 die Erfindung der Fotografie durch ihren französischen Malerkollegen Louis Daguerre und den Engländer William Fox Talbot (ein Master of Arts) sehr entgegen.
Als etwa der Maler David Octavius Hill (1802–1870) das Gründungstreffen der Schottischen Freikirche im Jahr 1843 als Gruppenbild mit 470 Personen malen soll, löst er den Auftrag mittels unzähliger „Kalotypien“ für eine Montage des letztlich 152 cm mal 345 cm großen fotografischen Gruppenporträts. Nach diesem von Talbot entwickelten Negativ/Positiv-Verfahren entstehen in seinem Fotostudio weitere hunderte Einzelporträts bekannter Zeitgenossen.
1853 eröffnet der Maler und Porträtlithograph Franz Hanfstaengl (1804-1877) sein erstes Fotostudio in München. Hier schafft er für sein „Album der Zeitgenossen“ bleibende Porträts von Carl Spitzweg, Wilhelm von Kaulbach, Leo von Klenze und Moritz von Schwind, Richard Wagner, Franz Liszt und Clara Schumann oder auch von Jacob Grimm und Hans Christian Andersen. Als Hoffotograf empfängt er 1864 in seinem repräsentativen Porträtatelier in der vornehmen Maximilianstraße Regenten und Regentinnen, unter anderem die Ludwigs von I. bis III. und Maximilian II., Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn und Otto von Bismarck.
Elisabeth ist zeitgleich auch ein Lieblingsmodell von Ludwig Angerer. Der österreichische Gesellschaftsfotograf verbreitet seine Porträts von Kaiserin, Kaiser und Kindern im preiswerten Visitenkartenformat; die Carte de Visite-Fotografien sind eine Erfindung von André Adolphe-Eugène Disdéri, die Angerer 1857 aus Paris nach Wien gebracht hat. Auf vielen Rückseiten dieser 6 x 9 cm kleinen, millimeterdicken (als Albiumabzüge kaschierten) Visitenkartenfotos und ihrer ab 1866 hinzugekommenen, 16,5 × 11,5 cm größeren Schwestern, den „Kabinettkarten“ ist die berufliche Herkunft der Porträtfotografen ablesbar: „Atelier für moderne Photographie und Malerei“, „Kunst-Anstalt für Photographie u. Malerei“ oder schlicht „Maler und Photograph“ steht unter den Porträtistennamen – nachzulesen auch im „Adressbuch der Photographen in Wien – 1840–1900“, das über 1000 Ateliers benennt.
„Das Stellen der Figuren, die Anordnung der Gewänder, die Wahl der passenden Accessoires, die ganze Komposition – all das ist nicht die Domäne des Malers allein (…)“, schreibt Antoine Claudet 1865, der (neben Henry Peach Robinson) den Impressionismus von der Malerei in die Fotografie überführt. „(…) Er weiss, wie er die Modelle in die günstigste Position bringt, welche Haltung er eine Person einnehmen lässt, wie er das Hell-Dunkel kontrastreich einsetzt, und er wird auf diese Weise seiner Kompostion Stärke, Gleichklang und Ausdruck verleihen.“ Zu den Künstlerinnen, die den zu ihrer Zeit vorherrschenden idealistisch-akademischen Malstil durch eine naturalistische Darstellungsweise mittels Fotografie ersetzen wollen, zählen nicht zuletzt Julia Margaret Cameron und Gertrude Käsebier.
Gertrude Käsebier eröffnet nach ihrem Malereistudium in New York und in Europa mit anschließender Ausbildung bei einem Porträtfotografen 1897 ihr Fotostudio in der Fifth Avenue in New York, avanciert zur Porträtfotografin mit Ausstellungen und Publikationen, gründet 1902 mit Eduard Steichen, Frank Eugene und Alfred Stieglitz die Photo-Secession, einen Club, der sich für die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel einsetzt. Edward Steichen fotografiert Käsebier 1901, Käsebier fotografiert Alfred Stieglitz 1902; der Abzug ihres Stieglitz-Porträts, den sie partiell übermalt hat, sowie ihr zeichnerisch manipuliertes Selbstporträt aus 1899 markieren exemplarisch die Hybris von Malerei und Fotografie. Frank Eugene, dessen Bilder zeitgenössische Kritikern als als „unfotografische Fotografien“ apostrophieren, kommt ebenfalls von der Malerei (Akademie der Bildenden Künste München) und gründet später in Leipzig den weltweit ersten „Lehrstuhl für künstlerische Fotografie“.
Die Fotografen, die ihre Arbeit als (bildende) Kunst entwickeln, kommen meist von der Malerei: die berühmten Porträtfotografen Henry Peach Robinson, Adolphe de Meyer, Hugo Erfurth, Edward Steichen, Anton Josef Trčka. Der Bogen spannt sich weiter über Charles Sheeler, der in den 1920er Jahren Industrieanlagen meisterhaft fotografiert, bevor er sie im Stil des Präzionismus malt, zu dem, mit seiner Sicht auf Industriedenkmäler die Düsseldorfer Fotoschule prägenden Bernd Becher, bis zu porträtierenden Fotokünstlern der Gegenwart wie Thomas Struth, Yasumasa Morimura und Cindy Sherman. Struth, Morimura, Sherman, auch sie haben Malerei studiert und praktiziert, bevor sie die Fotografie für sich entdecken und bevorzugt einsetzen. Dieser Generation gehört auch die Performance- und Fotokünstlerin Irene Andessner an.
Die Übereinstimmung von Malerei und Fotografie bei Irene Andessner
Irene Andessner studiert von 1978 bis 1983 Malerei, bei Emilio Vedova, Max Weiler und Arnulf Rainer, und malt bis 1995, hauptsächlich Selbstporträts, ohne Maske, ohne Rolle. Ab Mitte der 1990er Jahre tritt die Selbstinszenierung mit Rollenspiel an die Stelle des gemalten Selbstporträts – fotografiert auf 20 x 24 Inch-Polaroid-Film, der durch seine Größe, seine kornfreien Tonverläufe, die fast greifbare Pigmentsubstanz mit den ausblutenden Rändern, die erlebbare Bildentwicklung im 1:1-Direktverfahren und nicht zuletzt als Unikatbildmedium der Malerei am Nächsten kommt, wie Andessner findet.
Es entstehen „Nachbilder“ von künstlerischen Vorbildern wie Sofonisba Anguissola und Angelika Kauffmann, später auch von angehimmelten oder vergessenen historischen, mythischen und fiktiven Frauen wie Marienfiguren, Forscherinnen, Schauspielerinnen, Musen und Mätressen. Von Andessner gibt es bis heute rund 100 Rollenporträts, jeweils in zahlreichen Varianten. Ihre Fotoproduktionen sind Performances und Tableaux vivants, mit Foto- und Filmteam, im Atelier oder in Institutionen. Ihre Rollenkonzepte basieren auf biografischen Recherchen und Entdeckungen, ihre Themen sind ortsbezogenen gewählt und als Präsentationen und Interventionen im öffentlichen Raum angelegt. Sie inszeniert die Rollen nicht allein für Fotoporträts, sondern konzipiert und realisiert sie als interaktiven Prozess, der in einigen Fällen über ein Jahr läuft. Das unterscheidet sie von der oft mit ihr verglichenen Cindy Sherman und verbindet sie eher mit Sophie Calle.
Irene Andessners Bildergebnissen sieht man an, dass sie die Fotografie als Malerin einsetzt; dies ist thematisch-inhaltlich sowie fototechnisch begründet. Referenzen an die Kunstgeschichte gibt es zum Beispiel im „Abendmahl“-Zyklus nach Leonardo da Vinci, den sie 2011 zusammen mit Timm Ulrichs als Tableaux vivants im Museum der Moderne Salzburg und im Museum Moderner Kunst Kärnten realisiert; hieraus resultieren Fotografien von Tischgesellschaften in 16 Zusammensetzungen.
In ihrer Werkgruppe „Art Protectors“ (2010–2012) inszeniert Andessner im Kunsthistorischen Museum Wien zwei fotografische Gruppenbilder nach den großen Regentenbildern von Jan de Bray und Einzelporträts von 37 Personen aus der Kunstwelt nach Frans Hals-Gemälden. Mit der Prager Polaroid-Großbildkamera und 20 x 24 Inch Impossible Sepiafilmen aufgenommen, changieren die Porträtbildnisse zwischen den Gemälden der Haarlemer Schule und von im Van-Dyke-Braun-Prozess abgezogenen Vintage-Prints eines John Herschel. Drei Porträts aus dieser Produktion, bei der das Polaroid-Nachfolger-Material erstmals zum Einsatz kam, wurden in die Polaroid Collection von Peter Coeln aufgenommen und nach der Erstpräsentation in seinem Westlicht-Museum auch bereits im NRW-Forum Düsseldorf ausgestellt.
Unter den „Art Protectors“ befindet sich Arnulf Rainer, der auch an Andessners aktueller Porträtserie „Ateliermuseum“ teilnimmt. Der Werktitel kommt von der Adresse des historischen Setzer-Ateliers in der Museumsstraße hinter dem Wiener Volkstheater. Franz Xaver Setzer porträtierte zwischen 1909 und 1939 internationale Bühnenstars, Komponisten und Schriftsteller sowie österreichische Unternehmer und Politiker. Der Gesellschaftsporträtist sah seine Bildnisse als Kunstwerke an. Der von ihm geprägte Stil der Halb- und Dreiviertelporträts in undekoriertem Ambiente, vor neutralem, nur mit einem Spot strukturiertem Hintergrund, war künstlerisch auf der Höhe der Zeit – parallel zum Stummfilm, zur Malerei (Malewitsch), Architektur (Loos) und Mode (Coco Chanel). Im künstlerischen Niveau und in der gesellschaftlichen Geltung ist die Arbeit Setzers vergleichbar mit der Fotografie von Dora Kallmus und Arthur Benda (Atelier Madame d’Ora) sowie deren Lehrer Nicola Perscheid und auch Madame d’Oras später avancierte Ex-Praktikantin Trude Fleischmann.
2009 lädt Irene Andessner zu Porträtsitzungen im stillgelegten Setzer-Atelier ein. Sie spiegelt die alten Porträts mit Personen aus der heutigen Kunst- und Kulturszene, die sich in ein Rollenvorbild ihrer Wahl hineinversetzen „und dadurch bei sich bleiben“ (Andessner). Bei dieser Wahl kommt es ihr nicht auf physiognomische Ähnlichkeit an, vielmehr auf die Wahlverwandtschaft mit einer historischen Persönlichkeit. Die Sitzungen verlaufen ohne große Maskerade und Verkleidung. Andessner sorgt mit Bildaufbau und Beleuchtung sowie durch Coaching von Körperhaltung, Blick und Ausdruck für ebenso auratische wie authentische Gegenwartsporträts. Dabei macht sie die Erfahrung, „dass die Menschen, während sie sich in jemanden anderen hineinversetzen, ganz selbstvergessen zu ihrem eigenen Ausdruck finden“. So entstehen vexierbildhafte Dreiviertelporträts, in denen Rollenspiel und Persönlichkeit auf gewisse, vielleicht paradoxe Weise übereinstimmen. In diesen Produktionen agiert Andessner ähnlich wie Dora Kallmus, die als Bildregisseurin ihrem Fotografen Arthur Benda die technische Umsetzung überließ. Andessner produziert aktuell mit Andreas Barylli (dem Nachkommen aus dem legendären New Yorker und Wiener Porträtsalon Foto Fayer). Zum Einsatz kommen abgelaufene Restbestände von originalem Schwarz-Weiss-Polaroid-Material und (ab November 2012) das Nachfolgermaterial von Impossible in der Filmgröße von 8 x 10 Inch, die den 100 Jahre alten Vintage-Abzügen der früheren Porträtateliers entsprechen.
Irene Andessner möchte mit Referenz an die Qualität ihrer Vorgänger und zugleich mit dem Blick für die gegenwärtige Persönlichkeit ihrer Protagonisten „Porträts herstellen, die in Zukunft Bestand haben“ – und dies sicherlich nicht nur, was die Haltbarkeit ihrer Unikatfotos betrifft. Dieser Anspruch erinnert an die von ihr verehrte Julia Margaret Cameron: „Mein Bestreben ist es, die Fotografie zu veredeln und ihr den Charakter und die Wirkung einer hohen Kunst zu sichern, indem ich das Wirkliche und das Ideal verbinde und bei aller Verehrung für Poesie und Schönheit von der Wirklichkeit nichts opfere“ schrieb die Fotografin 1864 an Sir John Herschel, den Erfinder des bereits erwähnten, zu sepiafarbenen Bildergebnissen führenden Ausarbeitungsprozesses.
Mit dem Porträtieren von Anderen scheint sich sich die zuvor hauptsächlich im Selbstporträt-Genre bewegende Künstlerin von sich selbst entfernt zu haben. In ihrer jüngsten Werkreihe der „Collaborations“ sieht man Irene Andessner allerdings in Porträt-Pendants mit Arnulf Rainer und Ingolf Timpner – Rainer in einem Porträt nach dem bekannten Selbstporträt von Frans Hals, der Düsseldorfer Fotokünstler Timpner in einem Porträt nach dem Dürer-Selbstporträt von 1500, und Andessner in jeweils einem (Selbst)Porträt nach deren Selbstporträts. Zu sehen waren die Kollaborationsergebnisse in diesem Jahr (2012) in der Galerie Schloss Parz, Grieskirchen, und in der Düsseldorfer Galerie Bugdahn und Kaimer. Klaus Honnef fand in seiner Eröffnungsrede, dass „sich in den vermeintlichen Dürer-Porträts andere Bildnisse wie in einer russischen Puppe verbergen“, und dass sie „wirken, als seien die anderen Bildnisse wie in einem Gemälde die verschiedenen Farbschichten aufeinander gelegt worden, um das Augenscheinliche in ihrem Sinne zu beeinflussen. Aus dem Untergrund sickern die anderen Bildnisse in die Dürer-Porträts von Irene Andessner und Ingolf Timpner ein.“ Honnefs Besprechung lässt beinahe vergessen, dass es sich bei den Künstlerporträts um Fotografien handelt.