Das Wilde Denken im Tun

14.04.2019
Zum surrealen Realismus der Fotokonzepte von Ottmar Hörl

„Wir versuchen wohl, Ordnung in uns zu schaffen, so gut es geht, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches ... Das Natürliche ... ist das Chaos.“ 
Arthur Schnitzler, Das weite Land, 1909 

Die Dichotomie von Chaos und Ordnung ist alt wie Adam und Eva – sie beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies. Paradiesisch muss die Kultur des „Wilden Denkens“, wie sie Claude Lévi-Strauss (La pensée sauvage, 1962) empfunden hat, gewesen sein. Fasziniert von den schriftlosen Kulturen beschreibt der Ethnologe die Denkweisen der indigenen Völker, die auf ihrem Habitat, naturadaptierten Traditionen, ganzheitlicher Orientierung und mythischer Weltanschauung beruhen. Lévy-Strauss postuliert, dass unser „gezähmtes Denken“ dem „wilden Denken“ keineswegs überlegen sei: Der „Primitive“ sei nicht etwa trieb- statt vernunftgesteuert, sondern bearbeite nicht weniger vernünftig – sondern einfach nur anders – konkreteres Material, dabei aber mit anderen Zielen und stärker im Modus von „Bricolage“ (Bastelei). Damit sind wir bei der zeitgenössischen Kunst – namentlich bei den Neuen Wilden, proklamatisch bei den Dadaisten, kompositorisch beim Fluxus, behavioristisch bei der Art Brut, experimentell beim Ready made. Und aktuell bei Ottmar Hörl. 

Mit dem Material seiner Zeit, also des eigenen Lebensraumes zu arbeiten, das versteht Ottmar Hörl unter Bildhauerei. Zeitgenössische Bildhauerei kann in seinen Augen Objektkunst, Malerei oder Fotografie sein (mit diesem Credo hat er 1999 bis 2018 den Lehrstuhl an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg besetzt). Zu seiner Materialwelt zählen die verschiedensten „Objéts trouvés“ – neben Baumaterialien, Alltagsgegenständen, Verkehrszeichen, Werkzeugen und Instrumenten auch Fotoapparate. 

Seit 1982 wirft er mit Filmtransportmotor ausgestattete Spiegelreflexkameras, eingestellt auf 2,5 Autoklicks pro Sekunde, von Hochhäusern, Fernsehtürmen, Seilbahngondeln, Flugzeugen, montiert sie auf Pkw-Radfelgen und auf Akkuschrauber. Sein Gestaltungsehrgeiz beschränkt sich dabei auf die Auslösung der Produktion von zufälligen und zuletzt mitreißenden Bildern, die sich horizontal rotierend oder mit 220 km/h im freien Fall der natürlichen Erdanziehungskraft schlingernd, wie von selbst bilden – während die selbstauslösenden Kameras beim Aufprall „an die Grenzen ihrer Existenz als Werkzeug kommen“ (Hörl). Bis zu ihrer Landung beschreiben die fliegenden Kameras jedoch Kurven und Figuren, die der Bildhauer Hörl als interagierende Skulpturen betrachtet.

In diesem sich „über und durch den Raum definierenden Organisationsprinzip“ (Hörl) verbindet der Künstler Realität und Möglichkeitswelt, Tradition und Entwicklungspotenzial, Habitat und Fantasie – den fantasievollen Umgang mit Gebäuden, Verkehrsmitteln und Gebrauchsgegenständen, ohne deren obligatorischem Funktionsdiktat zu folgen. Er schafft den Sprung von der Ordnung ins Chaos, den Spagat zwischen Homo technicus und Homo ludens – um anschließend als Homo faber das Zufallsergebnis wieder in eine formale, seinem ästhetischen Empfinden entsprechende Ordnung zu bringen. Chronologisch gereiht, entstehen sauber ausgearbeitete, kaschierte oder gerahmte Bildserien in rhythmisierten Wand- und Rauminstallationen. Auch ein „Sittenbild des ausgehenden 20. Jahrhunderts“, das Hörl entstehen lässt, indem er allen Haushalten eines Vorortes von Frankfurt geladene Fotoapparate an die Hand gibt mit dem Auftrag, zu fotografieren, „was Ihnen das Wichtigste ist“ – Menschen ausgenommen (Götzenhain 1999). Mit solch rational geplanten Aktionen erzielt Hörl ratiobefreite Ergebnisse, unbelastet von dem in der bildenden Kunst dominierenden Gestaltungswillen. Autogenerierte Resultate, die ohne das Korrektiv des „gezähmten Denkens“ perfekt sind. Ganz im Sinne von Lévi-Strauss’ „wildem Denken“. 

Die Mappenedition „Wild Thought“ versammelt im Teil „Rotation (Fotografie)“ eine Auswahl von zehn Fotografien, die Ottmar Hörl 2011 von einer Expedition durch die Wälder im Spessart nach Hause gebracht hat. Diese auch als „Sekundenskulpturen“ betrachtbaren Bilder entstanden mit einer auf einen Akkuschrauber befestigten, mit 3,5 Aufnahmen pro Sekunde rotierenden Digitalkamera. Ihr Bildduktus weist eine Verwandtschaft auf mit seinen jüngsten Gemäldezyklen „Coldplay“ (2018) und der im Portfolioteil „Il Mare (Malerei)“ vertretenen Bildserie. Im Malvorgang von Il Mare limitiert sich Hörl (als Bildhauer malt er nicht mit dem Pinsel, sondern mit den Händen in Acryl auf Leinwand) zeitlich ähnlich extrem wie bei der Fotografie, um kognitive Reflexionen oder Gestaltungsanwandlungen auszuschließen: In einem fünf bis zehn Sekunden-Staccato entsteht ein Stroboskop von rund 200 großen Einzelbildern.

In Ottmar Hörls verwischtem Malstil klingen die frühen Rakelbilder von Gerhard Richter an, in seinen Kameraabwurf- und Rotationsfotografien Richters verunschärfte Wiedergaben der Realität aus Zeitungsbildern – zeitversetzt entsprechend ihrem biografischen Abstand von zwei Jahrzehnten. Im Zeitempfinden beider Künstler dreht sich die Welt immer schneller. Durch die zunehmende Frequenz, mit der die Bilder an uns vorbeirauschen, verschwimmen sie vor Augen. In der künstlerischen Bearbeitung wird die Ereignisbebilderung zum Bildereignis und das Erlebnisbild zum Bilderlebnis.

Hörls Rotationsbilder entsprechen der zunehmenden Rotation des Zeitgeschehens. Eine Dynamisierung, die er Anfang der 1980er Jahre gespürt und in seinen Fotoprojekten als Wahrnehmungsangebot präsentiert hat. Eine Beschleunigung, die sich heute in Nanosekunden – also in etwa um den Faktor einer Milliarde schneller als biologische Neuronen – ablaufenden Termingeschäften und exponentiellen Algorithmen auswirkt. Der damit einhergehende Kontrollverlust ist das zentrale Kriterium in den bildnerischen Konzepten von Ottmar Hörl. 

„Weil ich immer nur fotografierte, was ich schon mal gesehen hatte, musste ich meine Methode ändern“: Um neue Bilder zu finden, durfte Hörl, der sich beim Fotografieren selbst als „größter Unsicherheitsfaktor“ betrachtet, nicht mehr durch den Sucher blicken. Er kannte offensichtlich seinen Matisse: „Der Fotografierende soll sich so wenig wie möglich einmischen, sonst geht jeder objektive Charme verloren, den die Fotografie nach ihrer Natur besitzt.“ In der Natur des künstlerischen Umgangs mit der Fotografie liegt es, ihre „künstliche Ordnung“ (Arthur Schnitzler) in ein geordnetes Chaos zu transponieren – vom realistischen Surrealismus in einen surrealen Realismus. Vom „wilden Denken“ (Lévi-Strauss) zum kontraproduktiven Tun. Wer hätte gedacht, dass es im Objektiv der losgelassenen Hörl-Kameras liegt, das subjektive Auge des Betrachters – eineinhalb Jahrhunderte nach Daguerre – noch zu überraschen und derart mitzureißen.

„Man kann sich der physischen Welt von zwei entgegengesetzten Standpunkten aus nähern: von einem äußerst konkreten oder einem äußerst abstrakten aus; entweder unter dem Aspekt der sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten oder unter dem der formalen Eigenschaften.“
Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 1962

 

Wild Thought,
zweiteiliges Portfolio von Ottmar Hörl,
„Rotation (Fotografie)“ / „Il Mare (Malerei)“
mit jeweils 10 Blättern
erscheint zur Ausstellung
„Wild Thought – Johannes Brus / Ottmar Hörl“
in der Biblioteca Nazionale Marciana, Venedig,
12. Mai bis 28. Juli 2019,
im Begleitprogramm zur 58. Biennale di Venezia
Auflage: 15 Exemplare je Mappenteil + 3 A.P 
Finart prints auf Hahnemühle Photo Rag 500 g/m2
Blattformat 50 x 68 cm, Bildformat 42 x 60 cm
in schwarzer Lederkassette
Edition Minerva, Neu-Isenburg, 2019

Peter Fabian